Im Jahr 2013 kam der Film The Lone Ranger in die Kinos. Regisseur war Gore Verbinski, der vorher Pirates of the Carribean gedreht hatte. In den Hauptrollen traten u.a. Johnny Depp und Helena Bonham Carter auf. Im darauffolgenden Jahr wurde der Film für die Golden Raspberry Awards nominiert als schlechtester Film, schlechteste Regie (Gore Verbinski), schlechtester Schauspieler (Johnny Depp) und schlechtestes Drehbuch.
In diesem Film kommt ein Indianer vor (Johnny Depp), der mit einem Pferd zu sprechen versucht. Auf die Frage, warum er mit einem Pferd zu sprechen versuche, antwortet er:
„I cannot decide wether this horse is stupid or pretending to be stupid.“1
Der Indianer trägt den Namen „Tonto“; das Problem, das er nicht lösen kann, soll für die Bedüfnisse der folgenden Überlegung das TONTO-Problem heißen und der Unterschied zwischen „being stupid“ und „pretending to be stupid“ der TONTO-Unterschied.
Zuerst fällt auf, dass dieser Unerschied nicht invertierbar ist. Damit meine ich: Man kann wohl so tun, als sei man dümmer, als man ist. Es lässt sich aber nicht gut vortäuschen, dass man schlauer sei, als man ist. Man könnte wohl behaupten, d.h. sagen, dass man schlauer sei, als man ist, und also lügen. Um dies aber nicht nur sagen, sondern auch vortäuschen zu können, müsste man es sein, woraus die Unmöglichkeit eines solchen Versuchs folgt. „Der Klügere weiß, dass er klüger ist“, lautet angeblich ein arabisches Sprichwort. Das trifft den Aspekt der mangelnden Invertierbarkeit im Kern. Man sieht es sofort, wenn man nach den Konsequenzen fragt, die sich aus dieser Relation für den Dümmeren ergeben (Liesl Karlstadt: „Der Klügere gibt ja nach!“ Karl Valentin: „Ich geb ja nicht nach!“ aus: Karl Valentin, Die Orchsterprobe.)
Eine solche mangelnde Invertierbarkeit lässt sich nun aber auch in anderen Fällen beobachten. Man kann zum Beispiel so tun, als könne man weniger schnell laufen, als man es in Wahrheit kann – man kann z.B. einen Wettlauf absichtlich verlieren und andere darüber täuschen, dass man ihn auch hätte gewinnen können. Auch das wäre evidenterweise nicht invertierbar (was ja hieße: zwecks Vortäuschung schneller laufen zu wollen, als man kann). Beim TONTO-Unterschied kommt jedoch noch etwas hinzu.
Es liegt im Verhältnis des So-tun-als-ob zum Inhalt der möglichen Invertierung, also zu Dummheit und Intelligenz selbst. Vereinfacht gesagt: Die Fähigkeit zum Vortäuschen setzt Intelligenz voraus. Sie ist – anders als das Schnell- oder Langsam-Laufen-Können - eine notwendige Bedingung erfolgreicher Vortäuschung, so dass man aus dem Faktum der Vortäuschung auf die Vorhandenheit von Intelligenz schließen kann. Das lässt sich wahrscheinlich als genaue Relation fassen: Je schlauer einer ist, desto größer seine Fähigkeit, jemand anderem etwas vorzuspiegeln. Und umgekehrt: Ein Mangel an Intelligenz vermindert immer auch die Fähigkeit zu einer Vortäuschung, die zugleich absichtlich und erfolgreich wäre.
Nicht bloß aus der Vortäuschung von Dummheit, sondern aus der Vortäuschung als solcher und also aus jeder Vortäuschung lässt sich demnach auf die Intelligenz des Vortäuschenden schließen2. Wer einen Wettlauf absichtlich (mutwillig) verliert, stellt damit unter Beweis, dass er zu solchen Manövern in der Lage ist, woraus sich auf seine Intelligenz schließen lässt – nicht weil so ein Verhalten klug wäre (das wäre es in den meisten Fällen wahrscheinlich auch3), sondern weil so ein Verhalten nicht möglich wäre, wenn derjenige, der sich so verhält, nicht um die Ecke denken könnte.
Mit einem TONTO-Unterschied haben wir es folglich erst dann zu tun, wenn die Abwesenheit einer notwendigen Bedingung vortäuschenden Handelns selber zum Gegenstand einer Vortäuschung wird.
TONTO-A: Ein TONTO-Unterschied liegt vor, wenn die Abwesenheit einer notwendigen Bedingung vortäuschenden Handelns zum Gegenstand einer Vortäuschung wird.
Damit nicht genug: Wenn ein Pferd so tun könnte, als wäre es dumm, so wäre es zweifellos schlau. Und das ließe sich als Pointe des TONTO-Unterschieds bestimmen. Nun ist ein Pferd wohl fähig, dies oder jenes vorzutäuschen. Das muss man nicht bezweifeln (siehe Fußnote 2). Man muss daher auch nicht bezweifeln, dass auch Pferde – und nicht etwa erst Menschen – schlau (intelligent) sind und also beispielsweise so tun können, als wären sie unfähig, Bewegungen auszuführen, zu denen sie durchaus fähig wären. Es lässt sich aber sehr wohl bestreiten, dass ein Pferd so tun könne, als sei es dumm – dass es also - im Sinne von TONTO-A – die Abwesenheit einer notwendigen Bedingung vortäuschenden Handelns zum Gegenstand einer Vortäuschung machen könnte. Wenn es das könnte, wäre es nicht bloß intelligent. Es wäre vielmehr außergewöhnlich intelligent, nämlich so intelligent, dass Zweifel entstünden, ob das vortäuschende Pferd überhaupt ein Pferd sei oder nicht vielmehr ein Wesen, das nur vortäuscht, das zu sein, was es zu sein scheint (ein Pferd).
Auf eben diese Frage richtet sich das Interesse des Indianers Tonto in dem Film ‚Lone Ranger‘. Er will gar nicht wissen, ob das Pferd intelligent ist. Er will wissen, ob das Pferd ein Pferd ist und nicht etwa nur so tut, als sei es ein Pferd, oder nur so aussieht wie ein Pferd, während es in Wahrheit etwas ganz Anderes ist, nämlich etwa ein Geist („spirit horse“). Im Film wird der Verdacht bestärkt dadurch, dass das Pferd gelegentlich einen Hut trägt und über Hausdächer läuft.
Aus dieser Überlegung lässt sich die Bestimmung TONTO-B gewinnen:
TONTO-B: Mit der Vortäuschung der Abwesenheit einer notwendigen Bedingung vortäuschenden Handelns kann eine Täuschung über die Identität des Vortäuschenden verbunden sein, die selber nicht zu den notwendigen Bedingungen vortäuschenden Handelns zählt.
Auf deutsch: „Ich kann nicht entscheiden, ob dieses Pferd dumm ist oder so tut, als ob es dumm sei.“ - Der Satz fällt zwischen der 45. und 50. Minute des Films.
Die Bestimmung setzt voraus, dass man in der Natur – vor allem bei den Tieren – vortäuschendes Verhalten von täuschenden ‚Einrichtungen‘ der Natur (z.B. Mimikry) unterscheiden kann. Dass eine Spinne ein Netz bauen kann, setzt ihre Intelligenz nicht voraus. Dagegen wird man bei Präriehunden, die sich in den Hinterhalt legen, um zu Jagdzwecken ihre Nicht-Vorhandenheit vorzuspiegeln (i.e. sich zu verstecken), von Intelligenz nicht nur reden können, sondern auch reden müssen. Die Unterscheidung ist schwer durchzuhalten, weil das Faktum der Allmählichkeit des Übergangs – vom Spinnennetz zum listigen Verhalten - immer wie ein Argument gegen die Bestimmtheit von Unterschieden aussieht. Das täuscht allerdings.
„Nichts, wenn man es recht überlegt, kann dazu verlocken, bei einem Wettrennen der erste sein zu wollen.“ Franz Kafka, Zum Nachdenken für Herrenreiter. In: Erzählungen. Hgg. von Roland Hermes. Berlin: Schocken, 1935 / 1996. S. 18.