Zeichen lassen sich nicht abbilden, sondern nur wiederholen. Was sich abbilden lässt, ist unwiederholbar.
Dies ist eine Reproduktion des Kupferstichs ‚Melencolia 1‘ von Albrecht Dürer aus dem Jahr 15141:
In seiner oberen rechten Ecke ist eine Glocke abgebildet:
Die Glocke ist an einer Art Wippe befestigt, die ihrerseits an einem Haken hängt. Von der Wippe führt rechts ein Seil schräg nach unten, so dass man versteht: Wenn man an diesem Seil zieht (oder zöge), wird (oder würde) man mit der Glocke läuten.
Nun sehen wir hier streng genommen nicht eigentlich eine Glocke, sondern nur das Bild einer Glocke, und mit Bildern von Glocken kann man nicht läuten, sowenig man auf Bildern von Stühlen sitzen könnte.
Das versteht jeder.2
Aber weiter. Unterhalb der Glocke befindet sich ein ‚magisches Quadrat‘:
Ein ‚magisches Quadrat‘ entsteht, wenn man alle bis zu einer bestimmten Quadratzahl führenden natürlichen Zahlen3 einschließlich der Quadratzahl selbst - im Fall der Quadratzahl 16 wären das also die Zahlen 1, 2, 3 usw. bis einschließlich 16 - zu einem Quadrat anordnet, aber so, dass die Quersummen in jeder Zeile, aber auch die Quersummen in jeder Spalte und sogar die Quersummen in jeder der beiden Diagonalen gleich sind.4
Solche magischen Quadrate sind möglich. Bis heute weiß niemand: warum?
Wenn man nun herausfinden will, ob es sich in Dürers Melencolia tatsächlich um ein magisches Quadrat handelt, muss man zu rechnen anfangen. Etwa mit der ersten Zeile: 16 plus 3 plus 2 plus 13 ergibt: 34. Diese Rechnung führt man zehnmal durch – für jede Zeile, für jede Spalte und für jede der beiden Diagonalen -, und wenn jedesmal dieselbe Summe, in diesem Fall 34, herauskommt, handelt es sich um ein magisches Quadrat. Das ist in Dürers Melencolia der Fall.
Das heißt:
Mit der Glocke oberhalb des magischen Quadrats kann man nicht läuten, aber mit den Zahlen des magischen Quadrats kann man rechnen. Die Glocke, die man hier sieht, ist ja, wie schon gesagt, keine Glocke, sondern nur das Bild einer Glocke. Das magische Quadrat dagegen ist nicht bloß das Bild eines magischen Quadrats, sondern ein magisches Quadrat.
Das ist der Unterschied.
Für Buchstaben gilt dasselbe wie für Zahlen:
Auf dem Bug dieses Schiffes (siehe oben) steht der Name „Robert“. Das entnehmen wir diesem Bild. Aber auf diesem Bild dieses Schiffes lesen wir dieses Wort genauso, wie wir es auf dem Schiff selbst lesen würden, d.h. wir sehen nicht auf dem Schiff die Buchstaben und auf dem Bild des Schiffes bloße Bilder von Buchstaben. Man könnte sagen: die Buchstaben, die sich auf dem Schiff finden, werden bei der Abbildung des Schiffes nicht ‚mit-abgebildet‘. Sie werden bei der Abbildung des Schiffes wiederholt – wenn auch durch eine Abbildung. Den Schriftzug ‚Robert‘ gibt es nach einer Abbildung des Schiffes zweimal, einmal auf dem Schiff und einmal im Bild. Das ist bei Glocken und Stühlen anders.
Wenn man die Differenz zwischen einer Glocke und dem Bild einer Glocke die ‚Bilddifferenz‘ nennt und als Oberbegriff für Buchstaben und Zahlen das Wort ‚Zeichen‘, dann lässt sich sagen, dass Bilddifferenzen bei Zeichen nicht vorkommen können. Oder: Im Unterschied zu Gegenständen lassen sich Zeichen nicht abbilden. Sie sind, wie man es sonst nur von Vampiren kennt, reflexionslos5.
Allerdings lassen sie sich wiederholen! Und ihre Wiederholungen lassen sich dann als Abbildungen interpretieren. In diesem Sinn spielt der Terminus ‚Abbildung‘ eine Rolle in der Mathematik als Fachausdruck und entsprechend beim Programmieren, wo etwa der ‚copy‘-Befehl eine Anweisung zur Wiederholung ist und nicht etwa eine Anweisung zur Erzeugung eines Bildes. D.h.: Wiederholungen lassen sich als Abbildungen interpretieren, aber dabei wird das Wort ‚Abbildung‘ in einem bildlichen Sinne verwendet (‚so etwas wie eine Abbildung‘), so dass die Bilddifferenz gleichsam vom Abgebildeten auf die Bezeichnung hinüberwandert, die wir jedesmal verwenden.
Bilder (im eigentlichen Sinne) wären Wiederholungen, die keine sind, indem Gegenstände, die sich abbilden lassen (Stühle, Glocken u.ä.), in Wahrheit unwiederholbar sind.
Aus Wikipedia (deutsch): „Das Bild Melencolia I aus dem Jahre 1514 ist einer der drei Meisterstiche Albrecht Dürers. Der Kupferstich misst 24,2 × 19,1 cm. Es gilt als eine besondere Glanzleistung des Künstlers, gibt aber dem Betrachter viele Rätsel auf und zeichnet sich – wie übrigens viele seiner anderen Werke auch – durch eine komplexe Ikonographie und Symbolik aus. … Zum Thema wird dieses Motiv für den Künstler, da er sich als Genie oft in einer ähnlichen Gemütsverfassung wiederfindet wie die abgebildete Allegorie, nämlich mit dem Willen zum Schaffen, aber unfähig, etwas zu tun.“ - Zitiert aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Melencolia_I# Abgerufen am 24.10.2022.
Dieser Umstand würde sich, wenn man dem Gedankengang lange genug folgte, als der vielleicht schwierigste Teil des Problems erweisen. Es würde sich nämlich zeigen, dass erst die Erklärung der trügerischen Verständlichkeit des Problems identisch ist mit seiner Lösung. Dabei wiederholte sich spiegelbildlich die Unverständlichkeit einer mystifizierten Dialektik, die immerhin den Vorteil hat, dass man in ihrem Fall versteht, dass man da etwas nicht versteht. – Ich komme bei anderer Gelegenheit darauf zurück.
Unter ‚natürlichen Zahlen‘ werden alle Zahlen verstanden, die man beim Zählen verwendet. Negative Zahlen kommen erst beim kaufmännischen Rechnen ins Spiel und gebrochene Zahlen erst beim Messen.
„Gleich“ in dem Sinne, in dem man in der Mathematik davon spricht, dass 1+2 „gleich“ 3 ist.
Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein. Gesammelte Werke, Bd. 21. Hamburg, 1985. S. 68.