Leibniz schreibt im Vorwort seiner Theodizee (GP 6, S. 29), es gebe zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich unser Verstand immer wieder verirre (s’egare), erstens das Problem von Freiheit und Notwendigkeit und zweitens das Problem des Kontinuums, d.h. der Teilbarkeit eines Zusammenhängenden in Teile, die ihrerseits immer wieder teilbar sind, so dass man bei einer Teilung des Zusammenhängenden niemals bei letzten unteilbaren Teilen landet.
Er fährt fort: Das Labyrinth der Freiheit beunruhige die gesamte Menschheit, während das Labyrinth des Kontinuums nur die Philosophen beschäftige. Und: Das Labyrinth des Kontinuums sei von großer Bedeutung für die Theorie („pour la speculation“), während das Labyrinth der Freiheit von nicht geringerer Bedeutung sei für die Praxis.
Er werde vielleicht ein andermal Gelegenheit haben, das Labyrinth des Kontinuums zu erörtern, hier, in der Theodizee, solle es nun um das Labyrinth der Freiheit gehen.
Diese Bemerkung ist ein Vorgriff auf den Abschnitt 24 des ersten Teils der Theodizee, der überschrieben ist mit „Einleitende Abhandlung“ (Discours Préliminaire) „über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft“ (GP 6, 65).
Dort nennt Leibniz auch die Autoren, die die beiden „Labyrinthe“ berühmt gemacht hatten. 1561 hatte Bernardino Ochino aus Siena eine Schrift veröffentlicht unter dem Titel: Laberinti del libero, o ver servo arbetrio, prescienza, predestinatione, e libertà divina. Und siebzig Jahre später, 1631, war von einem Geistlichen aus Lüttich, Libert Froidmont, das Werk Labyrinthus sive de compositione continui erschienen.
Leibniz geht auf die beiden Schriften nicht näher ein, hebt aber anerkennend hervor, dass beide Autoren die jeweiligen großen Schwierigkeiten richtig darstellen, ohne aber dabei die Sache zu übertreiben und aus der Schwierigkeit eine Unmöglichkeit zu machen: „…ils ne seront point allés du difficile jusqu’à l’impossible“ (GP 6,65).
Eben dies – die Behauptung, dass die beiden Labyrinthe nicht nur schwer zu lösen, sondern ganz und gar unlösbar und also Freiheit, ebenso wie das Kontinuum schlechterdings unbegreiflich seien – ist hier die Gegenposition, die Leibniz zwar nicht erwähnt, auf die er sich aber implizit bezieht. Sie findet sich in den 1644 erschienen Prinzipien der Philosophie (Prinicipia Philosophiae) von René Descartes.
Um die Unbegreiflichkeit der Freiheit geht es dortselbst im ersten Teil (De prinipiis cognitionis humanae) in den Abschnitten 39, 40 und 41 (AT VIII-1, S. 19f.), um die Unbegreiflichkeit des Kontinuums im zweiten Teil (De principiis rerum materialium) in den Abschnitten 34 und 35 (AT VIII-1, S. 59-62). In beiden Fällen kommt Descartes zu dem Ergebnis, dass ein Begreifen jenseits unserer Fähigkeiten als endlichen Wesen liege, so dass wir in beiden Fällen das paradoxe Ergebnis vorfinden, dass wir zwar etwas wissen, zugleich aber einsehen müssen, dass wir das, was wir wissen, nicht begreifen können. Unsere Endlichkeit begegne nämlich in beiden Fällen - bei der Freiheit, wie bei der Kontinuität - der Unendlichkeit Gottes und seiner Schöpfung und müsse davor schlechterdings kapitulieren.
Diese Auffassung Descartes‘ von 1644 hat inzwischen nichts von ihrer Aktualität verloren. Der weltweit wirkungsmächtigste Intellektuelle der politischen Linken, Noam Chomsky, hat den Gedanken öfter wiederholt – zuletzt in einem Gespräch mit Nathan Robinson, dem Herausgeber der Zeitschrift Current Affairs am 12. Februar 2019[1]. Chomsky erklärt ausdrücklich, dass die Menschheit in Sachen Freiheit genau dort stehen geblieben sei, wo Descartes 1644 schon stand, und dass wir vermutlich auch nie darüber hinaus kommen können.
Anders als Descartes will Chomsky sich dabei nicht auf die Unendlichkeit Gottes berufen, hält es aber auch für überflüssig. Wir könnten die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens analog zu den Grenzen verstehen, die wir selber bei den Tiere beobachten. Wir hätten keinen Grund uns zu wundern, wenn wir bei uns selbst an vergleichbare Grenzen stießen – nur eben auf erweiterter Stufe.
Dabei verschiebt sich allerdings die logische Form der Behauptung in entscheidender Weise: Chomsky will nicht nur Descartes‘ theologische Voraussetzungen vermeiden, sondern auch die Last eines Unmöglichkeitsbeweises (oder: -nachweises). Der wissenschaftliche Fortschritt widerlegt ja immer wieder neu Unmöglichkeitsvermutungen, indem sich immer wieder erweist, dass etwas. was soeben noch für unmöglich gehalten wurde, sich eben doch als möglich erweist. Ein solches Schicksal will Chomsky für Kontinuität und Freiheit nicht ausschließen. Er sieht nur nicht, dass in dieser Hinsicht Grund zur Hoffnung bestehe.
Doch zurück zu Descartes und Leibniz.
Descartes diskutiert das Problem der Freiheit an zwei verschiedenen, auseiander liegenden Stellen, die sich darüberhinaus in verschiedenen Teilen seiner Prinzipienschrift befinden. Querverweise finden sich bei Descartes nicht.
In der Tat scheinen Freiheit und Kontinuum nicht bloß an verschiedenen, sondern geradezu an entgegengesetzten Enden des philosphischen Problemfeldes zu liegen, die Freiheit dort, wo sich die Philosophie mit Moral, Recht und Politik berührt, das Kontinuum dort, wo die Philosophie mit Mathematik und Physik zusammenhängt.
Leibniz stellt beide Labyrinthe zusammen! Er nennt sie sozusagen in einem Atemzug, und das hat vor Leibniz noch niemand getan.
Damit werden (mindestens) zwei Fragen nahegelegt:
- Haben die beiden Labyrinthe vielleicht mehr miteinander zu tun als nur ihre ‚Labyrinthaftigkeit‘?
- Und (zweite Frage): Gibt es vielleicht noch mehr Labyrinthe dieser Art, und ließe sich andernfalls ein Grund angeben, warum uns diese Art von Schwierigkeit nur in den beiden genannten Fällen einholt?
Auf die erste Frage gibt Leibniz selber eine eindeutige Antwort. Sie findet sich allerdings nicht in der Theodizee, sondern in zwei Manuskripten, die Leibniz selber nie veröffentlicht und, soweit bekannt, nie anderen Menschen vorgelegt hat. Beide Manuskripte sind inzwischen in der historisch-kritischen Gesamtausgabe der ‚Sämtlichen Schriften und Briefe“ enthalten – beide in der Reihe 6, Band 4 (Abkz. AA VI, 4):
- Das erste Manuskript trägt in der Gesamtausgabe die Nummer 303 und ist versehen mit dem Titel ‚DE NATURA VERITATIS, CONTINGENTIAE ET INDIFFERENTIAE ATQUE DE LIBERTATE ET PRAEDETERMINATIONE‘. Es von den Editoren der Gesamtausgabe auf Ende 1685 bis Mitte 1686 (?) datiert. Veröffentlicht wurde es erstmals von Louis Couturat im Jahr 1903.
- Das zweite Manuskript ist veröffentlicht in demselben Band der Gesamtausgabe unter der Nummer 326 und überschrieben mit: „DE LIBERTATE, CONTINGENTIA ET SERIE CAUSARUM, PROVIDENTIA“. Als Datum der Niederschrift wird (auf Grund von Wasserzeichen) der Sommer 1689 vermutet. Der französiche Leibnizforscher Foucher de Careil hat es Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts aus den Leibniz-Archiven von Hannover ausgegraben und 1857 veröffentlicht[2]. Es handelt sich um einen kurzen, ca. sieben Seiten langen Text, der gewöhnlich unter dem (wie sich noch zeigen wird: irreführenden) Titel „Über die Freiheit“ verbreitet wird.
[Eine erste Diskussion dieser beiden Manuskripte folgt in einem späteren Beitrag.]
abgerufen am 28.2.2019
[2] In: Ders., Hgg., Nouvelles lettres et opuscules de Leibniz. 1857. S. 178-185.